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Michael Oehme: Beim Wohnungsneubau stehen sich Schweizer oft selbst im Weg

Autor: Thomas Breithaupt · Zuletzt aktualisiert: 09.08.24

Immobilien · 6 Min. Lesedauer

Michael Oehme:  Beim Wohnungsneubau stehen sich Schweizer oft selbst im Weg - Titelbild

„Die Aussicht ist den meisten Schweizern am wichtigsten“, so der Schweizer Immobilienexperte Michael Oehme, Mitglied mehrerer Verwaltungsräte Schweizer Immobilienunternehmen, „weshalb sie sich beim Wohnungsneubau oft selbst im Weg stehen und diesen mit Einsprachen vor ihrer Haustür verhindern.“ 

Michael Oehme (60), Schweizer Immobilienexperte aus St. Gallen, © Michael Oehme
Michael Oehme (60), Schweizer Immobilienexperte aus St. Gallen, © Michael Oehme
  • Fehlende Mietwohnungen. Michael Oehme: „Die Mietwohnungsangebote haben sich in den letzten 2 Jahren auf dem Schweizer Mietmarkt auf weniger als 34.000 Mietwohnungen halbiert – so wenig wie seit 10 Jahren nicht. Bereits 2026 werden voraussichtlich über 50.000 Wohnungen fehlen, was bei einer Bevölkerung von knapp neun Millionen Bürgern eine Menge ist.“

 

  • Fehlende Baubewilligungen. Raiffeisen Economic Research 2024 warnt: „Die Schweiz schlittert ungebremst in eine Wohnungsknappheit. Ausgerechnet zum Zeitpunkt, in dem die Schweiz 2023 eine rekordhohe Nettozuwanderung von rund 100.000 Personen verzeichnet, die sogar das Rekordjahr von 2008 übertrifft, sacken die Baubewilligungen für Wohnungen auf ein 20-Jahres-Tief.“  

 

  • Bewilligungsdauer steigt. Die Baugesuche sanken laut Zürcher Kantonalbank im letzten Jahr auf rund 25 Prozent unter dem Niveau von 2019, als sich die Bauindustrie noch in Hochkonjunktur befand. Die Bewilligungsdauer hat seit 2010 um etwa 70 Prozent zugenommen, in Genf wartet man 500 Tage. Jedes 10. bewilligte Bauprojekt in der Schweiz wurde seit 2010 bis heute nicht realisiert – dadurch wurden jährlich 4.000 Wohnungen nicht gebaut.

 

  • Verknappung von Grund und Boden. Michael Oehme: „Diese basiert auf dem Bundesgesetz für die Raumplanung vom 22. Juni 1979, das nochmals 2013 bestätigt wurde. Danach dürfen Baulandflächen nur noch bedingt neu ausgewiesen werden, in jedem Fall ist der verdichteten Bebauung den Vorzug zu geben.“

 

  • Eingaben gegen Verdichtungen: Die Schweiz hat ein Nimby-Problem: not in my backyard (nicht in meinem Hinterhof). Mit einem Lärmschutzurteil des Schweizer Bundesgerichtshofs für Wohnungsneubauten von 2016 lassen sich Bauvorhaben leicht kippen. Früher reichte ein ruhiges Lüftungsfenster, jetzt wird in allen Zimmern gemessen, ob die Lärmpegelobergrenze überschritten wird.

 

  • Richtige Strategien: Michael Oehme: „Um im Schweizer Immobilienmarkt überleben zu können, benötigt es die richtigen Strategien, das ausreichende Wissen um die Makrolage sowie kreative Lösungsansätze bei Neubauprojekten. So bekommt man auch die Nachbarschaft sowie die Gemeindevertretung hinter sich.“

Michael Oehme – vom Berater zum Immobilienexperten

 

Jahrelang beriet der hessische Finanz- und Immobilienjournalist Michael Oehme in der Schweiz, wo er seit 2011 lebt, Schweizer Immobilienunternehmen bei der strategischen Ausrichtung, Positionierung und Realisierung von Erfolgsstrategien. Ein Profil von Michael Oehme mit persönlichen Einblicken lesen Sie auf Business-Leaders.net.

 

Zum Jahreswechsel 2024 wurde Michael Oehme aus St. Gallen nun zum Bauunternehmer und begleitet in mehreren Verwaltungsratspositionen Ostschweizer Immobilienunternehmen. Der Schwerpunkt der Bautätigkeit liegt dabei in der Ostschweiz.

 

SQUAREVEST.AG: Herr Oehme, warum bauen Sie in der Ostschweiz?

 

Michael Oehme: „Da – anders als in manch anderen Städten der Schweiz – die Projektpreise noch nicht so durch die Decke gegangen sind, lassen sich bei ausreichendem Baucontrolling immer noch lukrative Renditen erzielen.“

Einsprachen bremsen den Schweizer Wohnungsbau

 

SQUAREVEST.AG: Was sind denn die Hauptbremsklötzer für den Wohnungsneubau in der Schweiz?

Michael Oehme Immobilienexperte

Die Auftragslage in der Baubranche ist bestens. Doch neben fehlenden Fachkräften und gestiegenen Baukosten müssen Schweizer Bauherren vor allem immer wieder um die Baugenehmigungen bangen.

Immobilienexperte

Michael Oehme

SQUAREVEST.AG: Wer oder was verhindert die Baugenehmigungen?

 

Michael Oehme: „Die Einsprachen der Schweizer haben sich zur 5. Landessprache entwickelt. Sie sorgen für mehr Auflagen, die bei der Bauplanung zu diversen Ehrenrunden führen und die Bewilligungsdauer massiv in die Länge ziehen. Die Zürcher Kantonalbank beklagte im letzten Jahr: In der Schweiz verstreichen‚ zwischen Baugesuch und -bewilligung 140 Tage. Die Tendenz ist klar steigend. Die Bewilligungsdauer hat seit 2010 um etwa 70 Prozent zugenommen. Je stärker sich die Wohnbautätigkeit auf bereits besiedelte Flächen konzentriert, desto grösser ist der Widerstand und desto langwieriger werden die Bauprozesse.

 

Im urbanen Kanton Zürich müssen sich die Bauwilligen mit 170 Tagen daher noch länger gedulden. Wer in der Stadt Zürich ein Baugesuch einreicht, braucht einen langen Atem. Hier dauert der Prozess im Schnitt fast 11 Monate. Das Plus von 136 Prozent seit 2010 verheißt auch bezüglich Dynamik Nichts Gutes. Wer in Zürich die Rahmenbedingungen im Wohnungsbau beklagt, darf getrost seinen Blick auf die Auswertungen im Kanton Genf lenken. Hier dauert es im Durchschnitt sagenhafte 500 Tage, bis ein Bauvorhaben grünes Licht bekommt.“

In der malerischen Stadt St. Gallen in der Ostschweiz stehen alte Fachwerkhäuser, die einen Hauch von Geschichte und traditioneller Schweizer Architektur ausstrahlen. Moderne Neubauprojekte finden sich eher außerhalb der Innenstadt, da die historisch wertvollen Gebäude so gut es geht erhalten werden.
In der malerischen Stadt St. Gallen in der Ostschweiz stehen alte Fachwerkhäuser, die einen Hauch von Geschichte und traditioneller Schweizer Architektur ausstrahlen. Moderne Neubauprojekte finden sich eher außerhalb der Innenstadt, da die historisch wertvollen Gebäude so gut es geht erhalten werden.

SQUAREVEST.AG: Aber dann dürfen doch endlich die Champagner-Korken knallen?

 

Michael Oehme: „Leider sieht die Realität anders aus. Bereits bewilligte, mit den Behörden breit abgestimmte Wohnbauprojekte können aufgrund erfolgreicher Rekurse in letzter Minute gekippt werden. Die Zürcher Kantonalbank hat sämtliche bewilligten Wohnungsneubauprojekte seit 2010 untersucht. Demnach wurden in der Schweiz trotz Baubewilligung rund 10 Prozent der Bauprojekte bis heute nicht realisiert. Jährlich gehen dem Schweizer Mietwohnungsmarkt dadurch im Schnitt mindestens 4.000 Wohnungen verloren – Tendenz steigend.“

Michael Oehme über das Nimby-Phänomen

 

SQUAREVEST.AG: Sind die Neubaugegner in der Schweiz ein Massenphänomen?

 

Michael Oehme: „In der Schweiz breitet sich tatsächlich das Nimby-Phänomen aus. Die ETH Eidgenössische Technische Hochschule Zürich fand 2022 in einer Studie heraus: 58 Prozent der Schweizer Bevölkerung befürworten die 2013 im Raumplanungsgesetz beschlossene Verdichtung bestehender Bauzonen, um die Kulturlandschaft zu schützen. Aber nur 12 Prozent in ihrer Nachbarschaft.“

 

SQUAREVEST.AG: Was ist das Hauptmotiv der abwehrenden Nachbarn?

 

Michael Oehme: „Die Aussicht. Für Schweizer ein wichtiges Kriterium für die Objektauswahl und Wohnzufriedenheit. In dicht bebauten Gegenden ist ein weiträumiger Ausblick oft stark eingeschränkt. Erwartungsgemäß zeigten sich bei einer Umfrage des Züricher Immobiliendienstleisters Wüest Partner AG vom November 2023 viel weniger Haushalte in einem dicht bebauten Wohnumfeld mit 4- bis 5-geschossigen Bauten mit der Aussicht zufrieden als Haushalte aus einem Wohnumfeld mit geringer Dichte wie frei stehenden Einfamilienhäusern, Reihenhäusern oder tiefgeschossigen Bauten oder mit mittlerer Dichte wie zum Beispiel 3- bis 4-geschossigen Bauten.“

Michael Oehme (60), Schweizer Immobilienexperte aus St. Gallen, © Michael Oehme
Michael Oehme (60), Schweizer Immobilienexperte aus St. Gallen, © Michael Oehme

Bundesgericht hebelte Lüftungsfenster-Praxis aus

 

SQUAREVEST.AG: Die Aussicht ist aber gesetzlich nicht geschützt.

 

Michael Oehme: „Nein, aber dafür der Lärmschutz. Der wird dann gleich für alle anderen Vorbehalte mitgenutzt. 2016 hebelte der Schweizer Bundesgerichtshof zu einem Fall im Kanton Aargau die sogenannte Lüftungsfensterpraxis aus. Diese von rund der Hälfte aller Kantone angewandte Lüftungsfensterpraxis, wonach die Lärm-Grenzwerte nur an einem Fenster einzuhalten sind, führe zu einer unzulässigen Aushöhlung des Gesundheitsschutzes. Das Bundesgericht hielt in seinem Entscheid fest, dass die Immissionsgrenzwerte für Lärm bei Neubauten grundsätzlich an allen Fenstern von lärmempfindlichen Räumen eingehalten werden müssen.

 

Ein prominentes Beispiel ist der Bürgli-Hügel in Zürich. Er ist von Rebbergen umgeben und zeugt vom Lebensstil wohlhabender Bürger im 19. Jahrhundert. 2018 reichte die Swisscanto Invest der Zürcher Kantonalbank ein Baugesuch für einen Abriss alter Wohnungen und den Neubau eines Ensembles von Sechsgeschossern plus Attikas (aufs Dach aufgesetzte Wohnungen) mit insgesamt 124 Wohnungen und Gewerbeflächen zur Nahversorgung ein. Die Anwohner blockierten mit Einsprachen und bekamen Recht. Ein Lärmgutachten bei der Überbauung im Bürgli zeigte schließlich, dass in 99 der 124 geplanten Wohnungen nachts die Lärmgrenze überschritten würde. Die bereits erteilte Baubewilligung wurde wieder gekippt, die Wohnungen nicht realisiert.“

 

SQUAREVEST.AG: Gibt es einen Ausweg aus den Lärm-Eingaben?

 

Michael Oehme: „Der Schweizer Nationalrat streitet aktuell noch um den Lärmschutz für den Wohnungsbau, also um eine Revision des Umweltschutzgesetzes. Eine Mehrheit der vorberatenden Nationalratskommission schlägt folgende Lösung vor, wonach in der Schweiz künftig Wohnungen in Gebieten mit zu viel Lärm unter folgenden Bedingungen zulässig sein würden: Bei jeder Wohneinheit verfügt mindestens ein lärmempfindlicher Raum über ein Fenster, bei dem die Grenzwerte eingehalten sind.

 

Zudem muss bei den übrigen Räumen eine kontrollierte Wohnraumlüftung installiert werden oder ein privat nutzbarer Außenraum zur Verfügung stehen, bei dem die Lärmgrenzwerte eingehalten werden.

 

Alternativ sind Baubewilligungen möglich, wenn bei jeder Wohneinheit mindestens die Hälfte der lärmempfindlichen Räume über ein Fenster verfügt, bei dem die Immissionsgrenzwerte eingehalten sind. Der bauliche Mindestschutz nach Artikel 21 des Umweltschutzgesetzes soll dann angemessen und wirtschaftlich verhältnismäßig verschärft werden.“

Professor Donato Scognamiglio: Hinzu kommen „tonnenweise Vorschriften“

 

Auch leidet der Wohnungsneubau unter einem Berg von Vorschriften. Die hohen Ansprüche ans Bauen müssten kritisch hinterfragt werden dürfen, sagte Wirtschaftsprofessor Dr. Donato Scognamiglio von der Uni Bern und Verwaltungsratspräsident der Immobilienberatungsfirma IAZI AG aus Zürich letztes Jahr dem Schweizer Magazin Rebublik.ch:

 

„Wir haben tonnenweise Vorschriften. Auf jedem Dach braucht es Haken zum Sichern. Bei jedem leicht zu tiefen Fenster, Balkon oder Treppengeländer muss eine Absturzsicherung montiert werden, damit niemand runterfällt. Das kostet alles. Es gibt eine ganze Industrie, die von teilweise übertriebenen Vorschriften und Normen lebt. Und offenbar verdient eine Mehrheit davon, sonst könnten wir das nicht durchziehen.“

Der Bau von modernen Wohnungen in bergigen Gebieten außerhalb der Stadt ist häufig kostenspielieger.
Der Bau von modernen Wohnungen in bergigen Gebieten außerhalb der Stadt ist häufig kostenspielieger.

Akzeptanz durch Überbauung nach vorher erkundeten Bedürfnissen

 

SQUAREVEST.AG: Herr Oehme, wie schaffen Sie als Verwaltungsrat von Immobilienunternehmen Akzeptanz für Ihre Neubauprojekte?

 

Michael Oehme: „Die Debatte um den Wohnungsbau beschränkt sich nicht darauf, das Angebot zu erhöhen, sondern es geht um die Frage, welche Wohnformen und welche Verdichtung gewünscht sind. Wir suchen unsere Projekte nach ausführlicher Analyse des Standorts und den Bebauungsmöglichkeiten aus. Diesem Bereich widmen wir sehr viel Aufmerksamkeit, da er aus unserer Sicht ein Kernbereich lukrativer Immobilieninvestments ist. Unser Projekt in Wängi qualifizieren wir beispielsweise als‚ stadtnah im Grünen‘. Wir befinden uns damit im Einklang mit der aktuellen Forschung.

 

Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich empfahl im April 2024: ‚Es bedarf eines ganzheitlichen Verständnisses von Stadtlandschaften, Stakeholderwünschen und übergreifenden sozial-ökologischen Mandaten für die Transformation von Stadt- und Metropolregionen. Unsere Forschung zeigt, dass die Lösung nicht nur darin besteht, mehr Wohnungen zu bauen, sondern auch Wohnungen zu bauen, die den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen der Bewohner:innen hinsichtlich eines umweltbewussten und sozial inklusiven Lebens gerecht werden. Die Schweizer Planung sollte sicherstellen, dass Projekte zur Wohnverdichtung nicht nur ökologisch und ökonomisch sinnvoll, sondern auch sozial gerecht sind.‘

 

Und die Analysten der Wüest Partner AG aus Zürich kamen im November 2023 zu dem Ergebnis: Um die Akzeptanz der Siedlungsentwicklung nach innen zu erhöhen, muss an der Qualität der Standortfaktoren gearbeitet werden, die aktuell weniger gut eingeschätzt werden. Und bei der Umsetzung von Verdichtungsprojekten sollte darauf geachtet werden, dass die Objektqualitäten, wenn immer möglich, optimiert werden.“

 

SQUAREVEST.AG: Herr Oehme, wir danken für das Interview.

Michael Oehme über den Schweizer Immobilienmarkt

 

  1. Lesen Sie auch eine Analyse von Michael Oehme, warum die Schweizer Immobilienbranche 2024 insgesamt weiter boomt, während Deutschland einen gravierenden Einschnitt verzeichnet, auf dem Portal MichaelOehme.com.
  2. Eine weitere Analyse von Michael Oehme, warum es dennoch für Wohnungssuchende in der Schweiz immer enger wird, finden Sie auf BerlinJournal.biz.
  3. Youtube: In diesem Video erklärte im Frühjahr 2024 die Wüest Partner AG die aktuelle Schweizer Immobilienmarktsituation.

 

(Unter Mitarbeit von Autor Frank Maiwald)


Thomas Breithaupt

Thomas Breithaupt

Redakteur

Mit einer Leidenschaft für Technik- und Finanzthemen war der Schritt vom Physikstudium zum Wirtschaftsjournalismus vorprogrammiert. Das analytische Denkvermögen hilft, sachlich zu berichten und neben der Entwicklung von Software eine fundierte Berichterstattung zu erstellen. Zwischen den Recherchen hilft Sport dabei, einen klaren Kopf zu bewahren und hält fit für den Surfurlaub.

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